Ray Anderson Pocket Brass Band Improvisierte Musik Jazzszene Performance Zeitgeschichte by ingrid-h. - 20. Januar 202219. März 2022 15. März 2022, Glad House Cottbus, 20 Uhr New York Journey: 16. März 2022, 20 Uhr Maschinenhaus – Kulturbrauerei Berlin Magie … gehört zu den meist strapazierten Begriffen für die Beschreibung von Musik. Nichtallzu oft ist das Gehörte dann wirklich magisch. Der amerikanische Bandleader RayAnderson hingegen ist ein Magier, wie er im Buche steht. Sein Zauberstab ist die Posaune.Mit Meisterhand hebt er die Grenzen zwischen Magie und Wirklichkeit, Spirit und Physis,Tradition und Utopie auf. Er gehört zu jenen Mystikern wie vor ihm Louis Armstrong oderLester Bowie, in deren Musik sich gleichermaßen Gravitation und Fliehkräfte, Werden undVergehen, Ausdehnung und Kompression abbilden. Und doch geht es hier um nichtsweniger als die Messbarkeit der Welt. Denn neben diesen physikalisch kalkulierbarenGrößen wird die Magie des Posaunisten eben gerade von jenen unermesslichen Geisterngeweckt, die wir ausschließlich im Reich der Metaphysik und ihrer ersten Ableitung, derPoesie verorten.In Chicago aufgewachsen und von früher Jugend an vom ganzen Spektrum derJazzgeschichte von New Orleans bis zu den Innovationen der AACM wie auch von ChicagoBlues, Motown, R&B, Folksängern der Sixties und Rock Bands beeinflusst, ging RayAnderson in den 1970er Jahren bei Anthony Braxton in die Lehre und erkannte nicht zuletztin den Bands von Barry Altschul und Charlie Haden, dass Musik immer eine Komponentedes Lebens sein muss. Bei den Slickaphonics verband er den Avantgarde-Sound von NewYork mit beißendem Funk, mit BassDrumBone zeigte er, dass sich formale Strenge undsubtiler Humor nicht im Weg stehen müssen. Bis heute hat er sich einen Sound bewahrt, indem sich der Kanon der Tradition am Puls der Straße bricht.Doch woher kommt sie nun, die Magie in der Musik der Pocket Brass Band? Niemand kanndarüber besser Zeugnis ablegen als der Meister selbst. „Du musst die Wahrheit erzählen.Das heißt, du musst spielen, was du gerade fühlst, nicht was du gern fühlen würdest, oderwovon du glaubst, es fühlen zu sollen. In jeder Situation bist du genau dort, wo du geradebist und nirgendwo sonst. Wenn du nervös bist, musst du etwas Nervöses spielen, bist dufrustriert, dann spiel etwas Frustriertes. Die Magie kommt daher, dass die Musik allesverändern wird. Bist du frustriert, wirst du nicht allzu lange frustriert sein. Es ist wie dasWetter, wie Wolken. Sie sind in ständiger Veränderung. Meine Mentoren haben mir immerans Herz gelegt: Tell the story! Und so habe ich immer die Geschichte erzählt.“Ein anderes Moment, das die Magie der Pocket Brass Band ausmacht, ist der Blues. Erverleiht Anderson und seinen Kompagnons die Freiheit, auf direktestem Weg allesauszudrücken, was sie fühlen. Die Magie des Blues besteht für den Posaunisten darin, jedenMenschen genau dort abholen zu können, wo er sich gerade aufhält. Der Blues brauchtkeine Erklärungen. „Ich muss den Blues nicht für das Publikum spielen, sondern kannihn mit dem Publikum spielen“, so Anderson. „Ich liebe die inklusive Kraft des Blues.“ Dabeiist er sich immer der Tatsache bewusst, dass jede seiner Bands ein Molekül in denunendlichen Weiten des musikalischen Kosmos ist. Mit beiden Beinen auf den Schultern derGiganten stehend, hallt in seinem Sounds der Spirit von Louis Armstrong, Albert Ayler, JohnColtrane, Duke Ellington und auch all jener Innovatoren wieder, deren Glanz im Dunkel derErinnerung verblasst ist.Die Pocket Brass Band ist eine Blaskapelle im Miniaturformat. Ihre Interaktion erinnert anden archaischen Zauber der Marching Bands in New Orleans, an okkulteBeschwörungsrituale und die vage Erinnerung an prähistorische Minstrel Shows. Für dieWollust, sich an jedem Ort der Welt auf die Herausforderungen des spontanen musikalischenAugenblicks einzulassen und zu akzeptieren, was immer passiert, gibt es keine Worte. Dasgegenseitige Vertrauen innerhalb der Band stachelt die Mitglieder an, ein großes Risiko ohneAbstriche an der Kommunikation oder den Wurzeln ihres Sounds einzugehen. Drei Hörnerund ein Schlagzeug seien so reduziert, meint Anderson, dass er nach manchem Gig derBand seine Lippen auf dem Boden auflesen müsse.Die Mitglieder der Pocket Brass Band sind nicht nur herausragende Musiker, sondern bildenihre Musik auch in ihrer Persönlichkeit ab. „Trompeter Steven Bernstein ist ein perfekterPartner für mich“, schwärmt der Bandleader. „Wir denken musikalisch auf dieselbe Weise,treffen synchron dieselben Entscheidungen. Das ist tatsächlich magisch. Gemeinsamkönnen wir Alles spielen. Dinge, die viel komplexer sind, als sich Pierre Boulez jemalserträumt hätte, und im nächsten Moment einen Reggae. Slide Trompete und Zugposaunebilden einfach einen Kosmos für sich. Tuba-Spieler José Davilas Spiel ist absolutunvorhersehbar. Ich weiß nie, was er als nächstes tut. Er ist ein Super-Virtuose, hat sichaber auch eine Wildheit bewahrt, die mir wichtig ist. Mit Drummer Tommy Campbell spieleich seit 1976 zusammen. Auch er ist unberechenbar, aber was immer er spielt, swingt.“An den speziellen Tag im Cottbuser Glad House, an dem „Come In“ mitgeschnitten wurde, hatRay Anderson sehr lebendige Erinnerungen. Der Gig fand unmittelbar vor der Explosion vonCorona statt. Donald Trump hatte gerade verkündet, die Grenzen zu den USA dicht machenzu wollen, und keiner der Musiker wusste, was das bedeutet. Die Telefone standen nichtmehr still, und jedes der vier Bandmitglieder wurde von seinen jeweiligen Familien bekniet,sofort heimzukommen. „Diese Nacht werde ich nie vergessen. Nach dem Gig wussten wirnicht, ob wir in die USA zurückkommen oder die ganze Pandemie in Europa überstehenmüssten. Alles war kompliziert, aber sowie wir auf der Bühne standen, spürten wir nur nochFreude. Das Publikum war ein unglaublicher Teil der Musik. Die Leute dort folgten uns vonder ersten Sekunde an und wurden Teil der Komposition.“Das neue Album der Pocket Brass Band ist nicht zuletzt ein Tribut ans Publikum imCottbuser Glad House, das die Band mit ihrem Enthusiasmus durch die Nacht trug und seinenTeil zur Magie des Auftritts beitrug. „Come In“ ist eine Einladung an alle, die an jenerunvergleichlichen Nacht in Cottbus teilhaben wollen. (Quelle: Jazzwerkstatt)